«Der Körper hat viele verschiedene erogene Zonen, die es zu entdecken gilt.»

Wie können trotz Krankheit eine erfüllende Intimität und Sexualität gelebt werden? Was kann jeder selbst dazu  beitragen, um Hemmungen nicht die Überhand zu geben? Die 39-jährige Ursina Brun del Re erzählt im Interview von ihren Erfahrungen als Sexologin.

 

Welchen Einfluss kann eine chronische Krankheit wie COPD auf das Sexualleben haben?
Veränderungen, die Einfluss auf das körperliche und seelische Empfinden haben, stellen das bisherige Leben auf den Kopf und wirken sich auf das Sexualleben aus. Ob dies durch eine Krankheit, die Geburt eines Kindes oder einen anderen Lebenswandel geschieht, spielt eigentlich keine grosse Rolle. Eine solche Krankheit oder eine andere grössere Veränderung im Leben bremst aus, absorbiert und schränkt durch Ängste das bisherige Leben ein. Diese Ängste gilt es zu durchbrechen und die sich verändernde Situation zu normalisieren. Im Sinne von: «Ja, logisch verändert sich dadurch auch das Sexualleben.»

 

«Jede Veränderung, die Auswirkung auf das seelische Befinden hat, wirkt sich auch auf das Sexualleben
aus.
»

 

Was können Betroffene tun, um solchen Ängsten keine Überhand zu geben?
Legen Sie den Fokus auf das, was noch geht. Denn Intimität und Sexualität finden im weiteren Sinne überall statt. Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und körperliche Nähe sollten ihren festen Platz in unserem Alltag haben. Fragen Sie sich, auf was Sie sonst Lust haben, wenn etwas Bestimmtes nicht mehr geht. Kommunizieren Sie klar, wie weit Sie gehen möchten: Möchte ich einfach in den Arm genommen werden? Tut es mir gut, wenn mein Penis/meine Vulva einfach nur gehalten wird, ich aber gar nichts weiter leisten muss? Je einschränkender die Veränderung ist, desto kreativer wird man. Nicht nur im Ausprobieren von neuen Stellungen: Der Körper hat viele verschiedene erogene Zonen, die es zu entdecken gilt.


Das hört sich eigentlich ganz simpel an…
Das ist es grundsätzlich auch. Man soll sich auch bewusst sein, dass die Situation nicht so bleibt. Sie wird sich wieder verändern, man sitzt nicht im «Jetzt» fest. Das Schlimmste ist jeweils das Gedankenkarussell, in dem man gefangen ist. «Geht mein Partner/meine Partnerin fremd, wenn ich keinen Sex mehr möchte?» ist eine Frage, die sich meine Patientinnen und Patienten sehr oft stellen. Es ist einfach unabdingbar, mit dem Partner/der Partnerin offen zu sprechen. Die Idee, dass der Partner spüren muss und von sich aus rausfinden soll, was Sache ist, funktioniert leider einfach nicht. Der Partner kann keine Gedanken lesen und zudem ändern sich Bedürfnisse und das eigene Befinden auch wieder. So kann der Partner auch nicht spüren, wenn man einen Kuss abblockt, aus Angst, dass es danach weitergehen soll und man das nicht möchte. Sprechen Sie miteinander, lassen Sie Ihren Partner nicht spekulieren! Sich den nötigen «Schupf» geben lohnt sich, denn es gibt so viele Hilfestellungen, die man erhalten kann.

 

«Es gilt gemeinsam herauszufinden, wie die Intimität auf einer anderen Ebene gelebt werden kann, wenn es mit der sexuellen Erregung nicht mehr geht. Dies kann eine spannende, schöne Aufgabe sein!»

 

Wie gelingt es am besten, das Thema anzusprechen?
Es geht uns allen gleich, Hemmungen sind sehr oft vorhanden. Sich diesem Umstand bewusst zu sein, kann helfen, über seine Sexualität zu sprechen. Eine direkte Ansprache und nicht lange um den heissen Brei herumreden bringt das Gespräch ins Rollen. Egal, ob das ein Gespräch mit dem Partner/der Partnerin oder einer Fachperson ist.

 

Haben Sie konkrete Tipps, die Sie für ein Gespräch mit dem Gegenüber geben können?
Der Gesprächseinstieg kann beispielsweise sein: «Es fällt mir sehr schwer, aber ich möchte mit dir über etwas Wichtiges sprechen. Es geht um unser Sexualleben.» Nehmen Sie Wörter direkt in den Mund und verwenden Sie Begriffe, mit denen Sie sich wohl fühlen. Bleiben Sie fest bei sich und verwenden Sie Ich-Botschaften. Damit können Sie nichts falsch machen. Und vergessen Sie den Humor bei der Sache nicht! Es entlastet, wenn man lachen kann. Nutzen Sie die Checkliste, wenn Sie etwas Inspiration benötigen.

 

Ist es denn überhaupt wichtig, dass die Intimität, beziehungsweise Sexualität ausgelebt wird?
Dies kann man pauschal sicher nicht beantworten. Die Bedürfnisse sind von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Ähnlich wie im Sport: Gewisse Leute müssen sich täglich auspowern und andere verspüren nicht mal den Drang, sich zu bewegen. Intimität hat sicherlich einen hohen Stellenwert, da diese auch mit tiefen Gesprächen und ohne sexuelle Erregung ausgelebt werden kann.


Man hört immer wieder, Sexualität sei lernbar. Was heisst das genau?
Das Einzige, was von Geburt an gegeben ist, ist die sexuelle Erregbarkeit. Alles andere muss gelernt werden und verhält sich gleich wie mit einem Instrument: Übung macht den Meister und je besser man sein Instrument kennt, desto mehr Spass macht es. Es vereinfacht so vieles, wenn man seinen Körper kennt: Wie man seine Erregung steigert, wie man sie wieder entladen kann und so weiter. Ich rate deshalb immer wieder, in die Solosexualität zu investieren und sich selbst zu erkunden.

 

In die Solosexualität?
Genau. Basis ist, dass man weiss, wie das eigene Instrument funktioniert. Egal ob als Single oder in einer festen Partnerschaft: Wie wollen Sie ein Duett oder in einem Orchester spielen, wenn Sie Ihr eigenes Instrument nicht beherrschen? Solosexualität kann auch in einer Partnerschaft seinen Platz finden, falls es zusammen schwierig ist und zeitweise nicht mehr geht. Leider ist auch das noch immer ein grosses Tabuthema, obwohl es so viele schöne Möglichkeiten gibt, die Solosexualität gemeinsam zu leben. Viele meiner Patientinnen und Patienten haben so einen Weg gefunden, voreinander und miteinander zum Abschluss zu kommen. Da rate ich, Begrenzungen zu kommunizieren: Was geht gemeinsam, was funktioniert besser allein?

 

Wie ist das für Personen, die in keiner Partnerschaft leben?
Jemand, der allein lebt, kann sich voll und ganz auf seine eigenen Bedürfnisse fokussieren. Entweder, man berührt sich selbst oder nimmt externe Angebote an, von denen es eine riesige Palette gibt. Wie beispielsweise der geschützte, seriöse Beruf der Sexualbegleiter, auch Berührer oder Berührerin genannt. Im Bereich der erotischen Massagen/Bordellen sollte man einfach schauen, dass man am richtigen Ort landet. Und auch da ist das Aussprechen seiner Begehren essentiell, damit man befriedigt wieder geht.


Was sollte in einer Partnerschaft beachtet werden?
In einer Partnerschaft sind Kompromisse und Rücksichtnahme an der Tagesordnung. Je enger die Bedürfnisse eines Paares beieinander sind, desto einfacher ist es. Je weiter sie auseinanderliegen, desto grösser ist der Kommunikationsbedarf. Solch eine Diskrepanz kann aber auch mit einem Schlag riesig werden, wie beispielsweise bei einer Krankheit. Kommunikation ist das A und O. Es gilt gemeinsam herauszufinden, wie die Intimität auf einer anderen Ebene gelebt werden kann, wenn es mit der sexuellen Erregung nicht mehr geht. Dies kann eine spannende, schöne Aufgabe sein!

 

Ursina Brun del Re ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP und Sexologin ZISS. Die eidg. anerkannte Psychotherapeutin MAS und Paartherapeutin EFT lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern am Walensee. Seit 2014 führt sie ihre eigene Praxis in Zürich.

 

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Zuletzt geändert:
27. Dezember 2022